Flucht über die "Wirler Spitze"
Mein Vater ist in den Herbstferien 1946 mit seiner Familie, bestehend aus 6 Personen, über die Wirler Spitze von der damaligen Ostzone in die britische Besatzungszone geflüchtet. Ich war damals 8 Jahre alt und erinnere mich noch heute daran. Mein Vater kam damals nach der Entlassung aus britischer Gefangenschaft über Westberlin nach Heiddorf bei Dömitz, wo wir auf der Flucht aus Westpreußen hängen geblieben waren. Die Elbbrücken waren zerstört. Er bereitete akribisch die Flucht vor, indem er angeblich eine neue Stelle als katholischer Religionslehrer in der Altmark am Arendsee nach den Herbstferien antreten wollte und deshalb beim Bürgermeister in Heiddorf uns abmeldeten konnte. Wir fuhren über Wittenberge mit dem Zug nach Harpe, wo wir gegen 20 Uhr eintrafen, die Fahrt unterbrachen und uns im verdunkelten Wartesaal auf die angebliche Weiterfahrt einrichteten. Meinem Vater gelang es, einen Dorfbewohner gegen ein kleines Entgelt zu überreden, uns in Richtung Grenze zu führen. Das tat der auch kurz nach 22 Uhr, allerdings um den Ort herum nur bis zum Ortsausgang zu einem Feldweg, der geradewegs zur Grenze führen sollte. Wir sollten möglichst nicht vor 24 Uhr die Grenze erreichen, da dann dort die Grenzstreifen wegen des Streifenwechsels in der Kaserne nicht anwesend seien. Die Kaserne sei etwa drei Kilometer entfernt.
In stockdunkler Nacht ging es also weiter bis wir eine Straße überqueren mussten und unser Vater uns eindringlich warnen musste. Wir sollten uns leise im hohen Unterholz verstecken. Ich höre noch heute einen leise pfeifenden Grenzer in einiger Entfernung sich erleichtern oder wollte er uns nur auf sich aufmerksam machen? Nach einiger Zeit gab es Entwarnung und wir konnten mit unseren Koffern und einem kleinen Handwagen weitergehen, bis wir zum Grenzbach kamen, durch den uns unser Vater durch das kalte Wasser tragen musste. Hinter einem Gebüsch machten wir halt, so dass mein Vater sich abtrocknen und wieder anziehen konnte. Im Gebüsch fanden wir Bretter, mit denen der Bachübergang leichter und trockener zu bewerkstelligen gewesen wäre!
Plötzlich standen zwei westdeutsche Grenzer vor uns. Sie klärten uns darüber auf, dass wir noch auf Ostgebiet seien. Die Grenze verlaufe erst 80 Meter weiter etwas oberhalb. Wir sollten uns möglichst schnell in den Wald hinauf begeben, so dass wir von den Ostgrenzern nicht mehr entdeckt werden können. Dann waren die beiden Grenzer auch schon weg! In aller Eile ging es in den Wald hinauf, an dessen Rand wir die Grenzsteine bemerkten. Von den beiden westdeutschen Grenzern war weit und breit nichts zu sehen! Wir schleppten uns weit, weit hinauf in den Wald, bis meine Eltern erschöpft mich mit dem Gepäck zurückließen. Sie fanden im nächsten Ort eine Bauern, der mich mit seinem Traktor samt Gepäck einsammelte und uns alle zum nächsten Flüchtlingssammelpunkt brachte.
Die Flucht endete sechs Jahre später in der neuen Bundeshauptstadt Bonn!
Ulrich P.