Grenzpfarrer
Wolfgang Düver, evangelischer Pfarrer in Mittenaar-Bicken (Dekanat Herborn), war 20 Jahre lang in der Kirchengemeinde Bergen an der Dumme tätig. Hier ein Auszug aus seinem Erlebnisbericht aus dieser Zeit:Letztes Pfarrhaus vor der Grenze
Die besondere Lage der Paulus-Kirchengemeinde Bergen/Dumme an einem der wenigen Grenzübergänge zwischen Ost und West war mit ein Grund, warum mich der damalige Lüneburger Superintendent Tielko Tilemann ermutigte, die vakante Pfarrstelle zum 1.Juni 1983 zu übernehmen. Bereits während meiner Vikariatszeit im Kirchenkreis Hannoversch-Münden hatte ich vielfältige Erfahrungen in der Arbeit mit Gemeinden im Raum Meißen sammeln können ...
In Bergen sollte fortan der Grenzübergang weite Bereiche meiner pfarramtlichen Tätigkeit bestimmen. Es kam vor, dass Reisende trotz gültiger Papiere auf östlicher Seite abgewiesen wurden. Ihre Wut und Enttäuschung luden sie gelegentlich im Berger Pfarrhaus ab. Andere wurden beispielsweise wegen der kleinlichen Zollbestimmungen auf Seiten der DDR mit verbotener Literatur, Warenkatalogen, Tonträgern oder persönlichen Unterlagen im Gepäck ertappt. Konfiszierten die DDR-Behörden das Material nicht umgehend, eröffneten sie in minderschweren Fällen zwei Möglichkeiten: Entweder konnten die beanstandeten Güter gegen Quittung an der Grenzübergangsstelle hinterlegt werden und man bekam sie bei der Ausreise wieder ausgehändigt. Oder man kehrte kurzfristig um nach Bergen, lud das Verbotene bis zur Rückkehr im Pfarrhaus ab und wagte einen zweiten, dann auch meist erfolgreichen Versuch der Einreise.
Wie oft standen völlig verunsicherte DDR-Bürger in der Pfarrhaustür, die auf die Ankunft ihrer Westverwandten schon seit Stunden vergeblich gewartet hatten. In Bergen an der Haltestelle, wo der Bus aus dem Osten stoppte, hatten sie sich doch fest verabredet. Den Namen der Angehörigen hatte man bei sich; man wusste auch ungefähr den Wohnort. Aber die genaue Adresse oder eine Telefonnummer war vorsichtshalber zu Hause geblieben. Jetzt mauserte sich der Pfarrer zum Pinkertondetektiv; denn meistens konnten die verloren gegangenen Verwandten nach zeitraubender Recherche irgendwo in Deutschland und Europa ausfindig gemacht werden. Allerdings waren nicht alle Gefundenen über die Nachricht erfreut, dass sich der östliche Familienzweig tatsächlich auf den Weg in Richtung Westen gemacht hatte. Was vielleicht als unverbindliche Höflichkeitsfloskel gedacht war, kam als freundlich gemeinte Einladung an und endete gelegentlich in unserem Pfarrhaus mit einer kleinen Tragödie.
Es kam auch vor, dass DDR-Bürgern das spärlich zugemessene Westgeld ausgegangen war. Hier eine Busfahrt, dort eine Tasse Kaffee und eine Schokolade für die Lieben daheim, und schon war kein Geld mehr übrig für die letzten Meter. Hier half oft genug die Berger Pfarramtskasse und bewahrte die Besucher vor Repressalien auf der anderen Seite. Es kam vor, dass dieselben Personen einige Wochen später wieder in der Pfarrhaustür standen. Diesmal wollten sie nicht erneut die Hilfe des Herrn Pfarrer in Anspruch nehmen, sondern sich mit einem Baumkuchen oder kunstgewerblichen Artikeln für die bedingungslos geleistete Unterstützung bedanken ...
Weihnachten an der Grenze
Mit Johanna, David und Tabea auf dem Rücksitz steuere ich meinen Wagen in Richtung Grenze. Kein Fahrzeug kommt mir entgegen, keines überholt mich. Hier draußen auf freiem Feld streuen allein meine Scheinwerfer ein wenig Helligkeit in die Dunkelheit dieses Heiligen Abends. Kaum passiere ich den Großen Fuhrenkamp, leuchtet mir schummrig die bundesdeutsche Grenzabfertigungsstelle entgegen. Gleich dahinter, auf östlicher Seite, markiert grellgelbes Licht aus unzähligen Peitschenlampen den dortigen Übergang und zeichnet den Verlauf der Grenze zwischen Deutschland und Deutschland grob nach. Zugleich zerreißt es die stille Friedlichkeit dieser Nacht der Nächte und stößt mich aus Eichendorffs romantischen Gedanken zurück in die nüchterne WirkIichkeit einer von ideologischer Verblendung und menschenverachtender Unversöhnlichkeit zerrissenen Welt.
Unser Auto stelle ich auf dem schmalen Parkplatz hinter dem westdeutschen Zollgebäude ab, lasse die Kinder aussteigen und greife mir vom Beifahrersitz einen mit Überraschungen gefüllten Korb. Ein leichter Punsch und Weihnachtsgebäck ist darin versteckt, wie alle Jahre. Offenbar hatte man bereits von drinnen unser Kommen beobachtet; denn ohne dass wir klopfen oder klingeln müssen, wird eine Seitentür geöffnet und ein Beamter lacht uns entgegen: "Na, Herr Pastor, bis eben waren Sie wohl noch bei ihren Sündern, jetzt kommen Sie zu uns Zöllnern!" Ach ja, die Zöllner: Es hat wohl einen tieferen Grund, dass sie als weltliche Berufsgruppe in den Evangelien am meisten vorkommen.
Der Uniformierte bittet uns hinein in die Dienststube. Es ist gemütlich warm. Wenige Lampen nur sind eingeschaltet. Aus einem kleinen Radio erklingen vertraute Weihnachtslieder. "Damit die von der anderen Seite nicht alles mitkriegen, was wir hier sagen", wird mir erklärt. Der Friede auf Erden will sich selbst am Heiligen Abend an dieser Nahtstelle zwischen Ost und West nicht recht einstellen. Zu tief sitzt das gegenseitige Misstrauen. Man hat im Laufe der Jahre seine Erfahrungen mit- und gegeneinander gesammelt. Auf den Schreibtischen liegt ein wenig Tannengrün. Einige Kerzen sind angezündet. Sie vermitteln eine leichte Ahnung von Weihnachten. So weht in dieser Amtsstube ein Hauch von heiler Welt trotz der Kalte-Krieg-Stimmung draußen vor der Tür.
1983 fuhr ich zum ersten Mal am 24. Dezember zu meinen Zöllnern. Das hatte ich mir in meiner ersten Pfarrstelle Faßberg vom befreundeten Militärpfärrer abgeschaut. In der Heiligen Nacht bereiste der seine Standorte und sah nach den Dienst habenden Soldaten. Während die meisten Mitbürger in seliger Weihnachtsfreude vor sich hin schwelgten, sollte mein Abstecher den Männern von Zoll und Bundesgrenzschutz vermitteln: Ihr seid nicht vergessen.
Mein erster Heilig-Abend-Besuch an der Grenze bedeutete 1983 eine kleine Sensation. Der Berger Pastor zu dieser Stunde bei uns?! Das hatte es ja noch nie gegeben! 1984 erwarteten mich die Männer bereits; und ebenso meine Kinder. Für sie hatten die Beamten kleine Geschenke mitgebracht. 1985 war mein Kommen für alle Beteiligten bereits eine liebgewordene Gewohnheit; eigentlich selbstverständlich und nicht mehr der Rede wert.
Wir vier bleiben etwa eineinhalb Stunden. Gelegentlich hält ein Wagen und wird kurz abgefertigt. Dann kommt noch der Bus von drüben. Er ist kaum besetzt. Die Kontrolle ist oberflächlich und schnell. An diesem Abend wird nichts so genau genommen. "Frohe Weihnachten!" Dann tritt draußen wieder Stille ein. Wir plaudern, schlurfen den Punsch, knabbern an den Keksen. Das ganze Dienstgebäude wird uns gezeigt. In der Arrestzelle dürfen die Kinder probeliegen. Bei solch ausgefallenem Unterhaltungsprogramm kommen sie alle Jahre wieder gerne mit.
"Ich habe noch einen Traum', sage ich einmal. "Ich möchte auch mal zu denen auf die andere Seite und Frohe Weihnachten wünschen." Die Männer in der Wachstube sehen mich ein wenig mitleidig an. Sie halten mich wohl für einen Spinner. "Das sollten Sie gar nicht erst versuchen.", meint einer der Uniformierten. Die lassen Sie doch nicht rein."
Ich erzähle von einem verstohlenen Gespräch, das ich vor einigen Monaten am ersten Häuschen auf der anderen Seite geführt hatte. Da schob ein nettes Grenzorgan Dienst. In seiner kleinen Bude gegenüber dem großen Viereckturm saß er alleine. Wir wechselten ein paar freundliche Worte. Er war ein Mann, zu dem ich glaubte, ein wenig Vertrauen fassen zu dürfen. "Wissen Sie," erklärte ich mich, "jedes Jahr am Heiligen Abend bin ich bei unseren Leuten an der Grenze und besuche sie. Die freuen sich darüber. Ich habe schon überlegt, ob ich nicht auch mal zu Ihnen rüberfahren sollte. Man muss sich doch nicht immer nur anknurren."
Mein Gegenüber wirkte ein wenig überrascht. Dann schaute er vorsichtig nach links und rechts, um mit gedämpfter Stimme zu sagen: "Herr Düver, das ist gut gemeint. Aber lassen Sie das. Solche Gesten dürfen wir gar nicht verstehen." Zur Unterstützung seiner behutsamen Warnung nickte er mir freundlich zu. Ich verstand den Wink und schwieg. Dann legte er schmunzelnd nach: "An Ihrer Stelle würde ich nur kommen, wenn ich die Predigt für den Spätgottesdienst noch nicht fertig hätte." Jetzt mußte auch ich schmunzeln. Das war deutlich. Heilig Abend als unwillkommener Gast der Deutschen Demokratischen Republik - das war für mich eine unangenehme Vorstellung ...
Auszug aus dem Buch von Wolfhard Düver: Bergen an der Dumme. Grenzerfahrungen einer Kirchengemeinde, S.33 ff. und S.102 ff.
© 2003 Ev.-luth. Paulus-Kirchengemeinde Bergen an der Dumme